WAZ 06-2023 Mülheimer Pflegedienst gilt als Vorreiter

Pressebericht WAZ | Nr. 144 | RRG2

Die ambulante Pflege chronischer Wunden wird neu geregelt. Pflegerat befürchtet Versorgungslücken. Mülheimer Pflegedienst gilt als Vorreiter

Mülheim. Rolf Adel­hüttes rechter Fuß ist kein schöner Anblick. Zwischen großem und vierten Zeh klafft ein gewal­tiges Loch, die Unter­seite seines großen Onkels ist bedeckt mit einer schwarzen Nekro­se­platte. „Sieht gut aus“, befindet Martin Wrede, Fach­the­rapeut für chro­nische Wunden, nachdem er den Verband gelüftet hat. Ein weiterer Zeh wird dem Pati­enten wohl nicht ampu­tiert werden müssen.

Seit Februar sind die Mülheimer „Engel vonne Ruhr“, deren Wund­mana­gement Wrede leitet, mit dem ICW-Wund­­siegel als spezia­li­sierter ambu­lanter Pfle­ge­dienst zerti­fi­ziert.

Sehr viel früher hat Geschäfts­führer Christian Westermann begonnen, sich für eine bessere Versorgung Betrof­fener stark zu machen. „Zu lange war das das Stiefkind der häus­lichen Kran­ken­pflege“, sagt er. Inzwi­schen haben zehn seiner 54 Mitar­beiter eine Zusatz­qua­li­fi­kation als Wund­ex­perte. 100 der 400 Kunden leiden an chro­ni­schen Wunden; die Jüngste ist 21, der Älteste 103.

Ein Mann wie Rolf Adel­hütte zählt zu den „Klas­sikern“, so Wrede. Zeh 2 und 3 verlor der Mülheimer im September. Sie waren nicht mehr zu retten, als bei ihm PAVK diagnos­ti­ziert wurde: eine Peri­phere Arte­rielle Verschluss­krankheit – als Schau­fens­ter­krankheit ist diese Durch­blu­tungs­störung besser bekannt. Die Nach­richt traf den 60-jährigen Stahl­werker kurz vor Beginn der Alters­teilzeit. „Ich war nach der OP psychisch am Ende“, erzählt er, „lag nur noch auf der Couch und hatte Schmerzen.

Über eine Million Menschen in Deutschland leiden an chro­ni­schen Wunden: an offenen Beinen, Druck­ge­schwüren, diabe­ti­schem Fuß, an Brand‑, Krebs- oder Strah­lungs­wunden, post­ope­ra­tiven Heilungs­stö­rungen. Solche Wunden sind so schwer zu heilen wie zu versorgen. Weshalb Deku­bitus & Co künftig nur noch durch Profis versorgt werden sollen. So will es eine neue Richt­linie des Gemein­samen Bundes­aus­schusses. (s. Infobox).

Doch der Pfle­ge­dienst in Mülheim ist bundesweit erst der dritte, und der bislang einzige in NRW, der mit dem „ICW_​​Wundsiegel“ zerti­fi­ziert wurde. Der Deutsche Pfle­gerat befürchtet bereits „Versor­gungs­lücken“ und kriti­siert die neue Richt­linie deswegen. Grund­sätzlich seien alle ausge­bil­deten Pfle­ge­kräfte „in der Lage und dazu quali­fi­ziert“, zumindest die Regel- und Grund­ver­sorgung durch­zu­führen, erklärt DPR-Präsi­­dentin Christine Vogler auf Anfrage dieser Redaktion; nur „für die Erst- und Folge­ein­schätzung, Thera­pie­planung und spezia­li­sierte Wund­ver­sor­gungs­si­tua­tionen braucht es (…) besonders quali­fi­zierte Pfle­ge­fach­per­sonen.“

Adel­hüttes Fuß ist 30 Minuten später wieder unter einem dicken Verband verschwunden. Wrede hat zuvor eine Spul­lösung auf die Wunde gekippt, sie einwirken lassen; die Beläge auf der Wunde abge­tragen. Er hat die schwarze Nekro­se­platte vorsichtig gelo­ckert, begut­achtet, was darunter zu erkennen ist (kein Eiter, „Leben, wunderbar!“); und den jüngsten Befund des Gefäß­chir­urgen mit dem Pati­enten erörtert. Als er Loch und Zeh neue, feuchte Wund­auf­lagen verpasst, den Fuß dann erst in dicke Pols­ter­watte und zuletzt in einen frischen Schlauch­verband packt, seufzt sein Patient glücklich. „Ich bin so froh“, sagt Adel­hütte, „ich hab mein Leben zurück.“ Jüngst habe er sogar schon wieder auf dem Rad gesessen.

Er raucht auch weniger, hat seine Ernährung umge­stellt, Wrede hat ihn dabei unter­stützt. Als Wund­ex­perte zählt das zu seinen Aufgaben. Er hält zudem Kontakt zum Hausarzt; vereinbart auch mal für einen Termin beim Podo­logen, kümmert sich um Hilfs-/Hau­t­pfle­­ge­­mittel. Dass er sich mit modernen Mate­rialien und Tech­niken auskennt, ist „logisch“, sagt sein Chef, Christian Westermann. „Pflaster drauf“ reiche bei chro­ni­schen Wunden nicht.

Die aktuelle Versorgung von Pati­enten mit chro­ni­schen Wunden in Deutschland hat viele Defizite“, sagt Westermann: „Betroffene werden im Kran­kenhaus entlass­fähig versorgt, aber in der Häus­lichkeit wird die Wunde dann wieder schlechter und sie müssen erneut ins Kran­kenhaus.“ Ein Prozess, der sich stetig wiederhole, er nennt ihn „Dreh­tür­effekt“. Diesen Effekt zu durch­brechen, entlaste die Kran­ken­kassen finan­ziell, und Kliniken, Praxen sowie die wenigen Wund­zentren personell. Zumal der Weg dahin für viele Betroffene nur mit enormen Aufwand, oft nur als Liegend­transport, zu bewäl­tigen sei. „Viele schämen sich für ihre Wunden, oder den Geruch, der von ihnen ausgeht, trauen sich nicht mehr aus dem Haus.“

Rund 1500 Euro kostet die Zusatz­qua­li­fi­kation zum Wund­ex­perten, knapp 4000 die zum Fach­the­ra­peuten, Westermann hat sie für seine Leute bezahlt, sie für die Dauer der mehr­tä­gigen Weiter­bil­dungen frei­ge­stellt. „Meinen Part habe ich erledigt“, sagt er. „Jetzt sind die Kosten­träger dran.“ Er kriti­siert, dass die profes­sio­nelle Wund­ver­sorgung nach wie vor von den Kassen wie reguläre Pfle­ge­leis­tungen vergütet werden. „Qualität hat ihren Preis, und im Moment zahlen wir drauf.“

Die Kosten­träger sollten jetzt „Geld der Leistung folgen lassen“, bekräftigt Martin Motzkus, Sprecher der Initiative Chro­nische Wunden (ICW). „Im Moment hängen viele Pfle­ge­dienste in der Luft, weil sie nicht wissen, was letztlich für eine Versorgung von Menschen mit chro­ni­schen oder schwer heilenden Wunden gezahlt werden wird.“

In Kürze werde man die Vertrags- und Vergü­tungs­ver­hand­lungen mit den Spit­zen­ver­bänden der Leis­tungs­er­bringer aufnehmen, versi­chert eine Spre­cherin der AOK Rheinland/​​Hamburg. Sie begrüßt die neuen Quali­täts­an­for­de­rungen ausdrücklich, man erhoffe sich „notwendige Versor­gungs­ver­bes­se­rungen“. Christian Westermann kämpft derweil darum, dass es mehr werden. Er warb auf dem Deut­schen Wund­kon­gress für sein Anliegen; erzählte dort, dass die Spezia­li­sierung Pfle­ge­kräfte anlocke. Bei den „Engeln“ gebe es keinen Fach­kräf­te­mangel, sagt er. „Aber alleine schaffen wir das nicht!“

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