Mülheim. Rolf Adelhüttes rechter Fuß ist kein schöner Anblick. Zwischen großem und vierten Zeh klafft ein gewaltiges Loch, die Unterseite seines großen Onkels ist bedeckt mit einer schwarzen Nekroseplatte. „Sieht gut aus“, befindet Martin Wrede, Fachtherapeut für chronische Wunden, nachdem er den Verband gelüftet hat. Ein weiterer Zeh wird dem Patienten wohl nicht amputiert werden müssen.
Seit Februar sind die Mülheimer „Engel vonne Ruhr“, deren Wundmanagement Wrede leitet, mit dem ICW-Wundsiegel als spezialisierter ambulanter Pflegedienst zertifiziert.
Sehr viel früher hat Geschäftsführer Christian Westermann begonnen, sich für eine bessere Versorgung Betroffener stark zu machen. „Zu lange war das das Stiefkind der häuslichen Krankenpflege“, sagt er. Inzwischen haben zehn seiner 54 Mitarbeiter eine Zusatzqualifikation als Wundexperte. 100 der 400 Kunden leiden an chronischen Wunden; die Jüngste ist 21, der Älteste 103.
Ein Mann wie Rolf Adelhütte zählt zu den „Klassikern“, so Wrede. Zeh 2 und 3 verlor der Mülheimer im September. Sie waren nicht mehr zu retten, als bei ihm PAVK diagnostiziert wurde: eine Periphere Arterielle Verschlusskrankheit – als Schaufensterkrankheit ist diese Durchblutungsstörung besser bekannt. Die Nachricht traf den 60-jährigen Stahlwerker kurz vor Beginn der Altersteilzeit. „Ich war nach der OP psychisch am Ende“, erzählt er, „lag nur noch auf der Couch und hatte Schmerzen.
Über eine Million Menschen in Deutschland leiden an chronischen Wunden: an offenen Beinen, Druckgeschwüren, diabetischem Fuß, an Brand‑, Krebs- oder Strahlungswunden, postoperativen Heilungsstörungen. Solche Wunden sind so schwer zu heilen wie zu versorgen. Weshalb Dekubitus & Co künftig nur noch durch Profis versorgt werden sollen. So will es eine neue Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses. (s. Infobox).
Doch der Pflegedienst in Mülheim ist bundesweit erst der dritte, und der bislang einzige in NRW, der mit dem „ICW_Wundsiegel“ zertifiziert wurde. Der Deutsche Pflegerat befürchtet bereits „Versorgungslücken“ und kritisiert die neue Richtlinie deswegen. Grundsätzlich seien alle ausgebildeten Pflegekräfte „in der Lage und dazu qualifiziert“, zumindest die Regel- und Grundversorgung durchzuführen, erklärt DPR-Präsidentin Christine Vogler auf Anfrage dieser Redaktion; nur „für die Erst- und Folgeeinschätzung, Therapieplanung und spezialisierte Wundversorgungssituationen braucht es (…) besonders qualifizierte Pflegefachpersonen.“
Adelhüttes Fuß ist 30 Minuten später wieder unter einem dicken Verband verschwunden. Wrede hat zuvor eine Spullösung auf die Wunde gekippt, sie einwirken lassen; die Beläge auf der Wunde abgetragen. Er hat die schwarze Nekroseplatte vorsichtig gelockert, begutachtet, was darunter zu erkennen ist (kein Eiter, „Leben, wunderbar!“); und den jüngsten Befund des Gefäßchirurgen mit dem Patienten erörtert. Als er Loch und Zeh neue, feuchte Wundauflagen verpasst, den Fuß dann erst in dicke Polsterwatte und zuletzt in einen frischen Schlauchverband packt, seufzt sein Patient glücklich. „Ich bin so froh“, sagt Adelhütte, „ich hab mein Leben zurück.“ Jüngst habe er sogar schon wieder auf dem Rad gesessen.
Er raucht auch weniger, hat seine Ernährung umgestellt, Wrede hat ihn dabei unterstützt. Als Wundexperte zählt das zu seinen Aufgaben. Er hält zudem Kontakt zum Hausarzt; vereinbart auch mal für einen Termin beim Podologen, kümmert sich um Hilfs-/Hautpflegemittel. Dass er sich mit modernen Materialien und Techniken auskennt, ist „logisch“, sagt sein Chef, Christian Westermann. „Pflaster drauf“ reiche bei chronischen Wunden nicht.
„Die aktuelle Versorgung von Patienten mit chronischen Wunden in Deutschland hat viele Defizite“, sagt Westermann: „Betroffene werden im Krankenhaus entlassfähig versorgt, aber in der Häuslichkeit wird die Wunde dann wieder schlechter und sie müssen erneut ins Krankenhaus.“ Ein Prozess, der sich stetig wiederhole, er nennt ihn „Drehtüreffekt“. Diesen Effekt zu durchbrechen, entlaste die Krankenkassen finanziell, und Kliniken, Praxen sowie die wenigen Wundzentren personell. Zumal der Weg dahin für viele Betroffene nur mit enormen Aufwand, oft nur als Liegendtransport, zu bewältigen sei. „Viele schämen sich für ihre Wunden, oder den Geruch, der von ihnen ausgeht, trauen sich nicht mehr aus dem Haus.“
Rund 1500 Euro kostet die Zusatzqualifikation zum Wundexperten, knapp 4000 die zum Fachtherapeuten, Westermann hat sie für seine Leute bezahlt, sie für die Dauer der mehrtägigen Weiterbildungen freigestellt. „Meinen Part habe ich erledigt“, sagt er. „Jetzt sind die Kostenträger dran.“ Er kritisiert, dass die professionelle Wundversorgung nach wie vor von den Kassen wie reguläre Pflegeleistungen vergütet werden. „Qualität hat ihren Preis, und im Moment zahlen wir drauf.“
Die Kostenträger sollten jetzt „Geld der Leistung folgen lassen“, bekräftigt Martin Motzkus, Sprecher der Initiative Chronische Wunden (ICW). „Im Moment hängen viele Pflegedienste in der Luft, weil sie nicht wissen, was letztlich für eine Versorgung von Menschen mit chronischen oder schwer heilenden Wunden gezahlt werden wird.“
In Kürze werde man die Vertrags- und Vergütungsverhandlungen mit den Spitzenverbänden der Leistungserbringer aufnehmen, versichert eine Sprecherin der AOK Rheinland/Hamburg. Sie begrüßt die neuen Qualitätsanforderungen ausdrücklich, man erhoffe sich „notwendige Versorgungsverbesserungen“. Christian Westermann kämpft derweil darum, dass es mehr werden. Er warb auf dem Deutschen Wundkongress für sein Anliegen; erzählte dort, dass die Spezialisierung Pflegekräfte anlocke. Bei den „Engeln“ gebe es keinen Fachkräftemangel, sagt er. „Aber alleine schaffen wir das nicht!“