Herr Westermann, in den aktuellen Wahlprogrammen scheint die Pflege kaum Beachtung zu finden. Wie bewerten Sie das?
Tatsächlich ist die Pflege in den Programmen der etablierten Parteien erschreckend abstrakt behandelt. Die wirklichen Probleme unserer Branche werden kaum aufgegriffen. Nehmen wir das Pflegekompetenzgesetz es mag den Beruf etwas aufwerten, aber das reicht bei Weitern nicht aus. Wir sind doch längst ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Gesellschaft. Ohne uns würden viele grundlegende Funktionen in der Bundesrepublik Deutschland einfach nicht mehr funktionieren. Und das ist etwas, was ich auch in Gesprächen mit der Politik immer wieder betone. Ich habe Herrn Merz beispielsweise direkt gebeten, die Pflege nicht zu vergessen, da sie ein zentraler Faktor für eine stabile Wirtschaft ist.
Sie sehen also andere Stellschrauben?
Absolut. Es geht darum, den Pflegebereich wirtschaftlich zu stabilisieren und gleichzeitig die Rahmenbedingungen zu verbessern. Zum Beispiel müssen pflegende Angehörige entlastet werden. Unsere Erfahrungen mit dem Verein „wir pflegen“ zeigen, dass viele Angehörige schlicht überfordert sind. Ohne professionelle Pflege wird die Belastung der Familien immer größer. Gleichzeitig müssen wir darüber sprechen, wie wir die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte nachhaltig verbessern können. Denn der Fachkräftemangel wird in den nächsten Jahren noch dramatischer. Wir brauchen Anreize und vor allem eine bessere gesellschaftliche Anerkennung. Außerdem sollte auch die Ausbildung attraktiver gestaltet werden, damit mehr junge Menschen in den Pflegeberuf einsteigen. Dazu gehören finanzielle Anreize, bessere Praxisbegleitung und langfristige Karriereperspektiven.
Wie steht es wirtschaftlich bei den ambulanten Pflegediensten aus?
Leider schlecht. Ein ambulanter Pflegedienst, der weniger als 100.000 Euro Monatsumsatz erzielt, wird Schwierigkeiten haben, zu überleben. Das Problem ist, dass die Refinanzierung der Personalkosten durch die Kostenträger oft nicht aus- reichend ist. Besonders Dienste, die auf das regionale übliche Entgelt gesetzt haben, stehen vor großen Herausforderungen. Wir haben deshalb unseren Tarif gewechselt, um wirtschaftlich besser dazustehen. Aber das ist keine Lösung für alle. Viele kleinere Dienste stehen vor dem Aus. Und wenn sie wegfallen, verlieren wir nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch die Vielfalt und Flexibilität in der Pflege. Kleine spezialisierte Anbieter, etwa für interkulturelle Pflege, leisten einen wichtigen Beitrag, der bei Verstaatlichungsdebatten oft ignoriert wird. Diese Nischenangebote sind nicht nur kulturell, sondern auch menschlich von unschätzbarem Wert. Sie zeigen, wie vielseitig und individuell Pflege in Deutschland sein kann.
Welche Rolle spielt die staatliche Unterstützung?
Eine enorm wichtige. Doch leider gibt es hier riesige Lücken. Nehmen wir Hamburg: Dort wurden für 380 Millionen Euro Pflegeeinrichtungen zurück- gekauft, ohne dass dadurch ein einziger neuer Pflegeplatz geschaffen wurde. Wenn private Dienste verdrängt werden, verlieren wir Innovation, Flexibilität und Nischenangebote wie interkulturelle Pflege. Es ist einfach nicht nachvollziehbar, warum man bestehende Strukturen nicht besser fördert, statt sie zu ersetzen. Auch die Digitalisierung bleibt ein großes Thema. Viele Dienste investieren bereits aus eigener Tasche in digitale Systeme, doch die Refinanzierung dieser Investitionen ist meist unzureichend. Dabei wäre eine digitale Infrastruktur eine große Chance für effizientere Prozesse und eine bessere Vernetzung. Wir könnten nicht nur Kosten senken, sondern auch die Qualität der Versorgung deutlich verbessern. Es ist an der Zeit, dass der Staat hier langfristig denkt und gezielt in diese Bereiche investiert.
Was fordern Sie konkret?
Wir brauchen eine Grundreform der Pflegeversicherung und eine 100-prozentige Refinanzierung unserer Kosten. Die Verhandlungen mit den Kostenträgern müssen endlich auf Augenhöhe stattfinden. Es darf nicht sein, dass Verhandlungen über Jahre hinausgezögert werden, wie wir es aktuell in NRW erleben. Dort verhandeln wir seit über einem Jahr über die Vergütung von Leistungen für chronische Wunden. Solche Verzögerungen sind nicht nur frustrierend, sie erschweren auch die Planung und den Betrieb eines Pflegedienstes. Gleichzeitig sollte die Finanzierung unabhängiger von Eigenmitteln der Pflegebedürftigen gestaltet werden. Pflege darf kein Luxus sein. Wir brauchen zudem eine stärkere Lobbyarbeit für die Belange der ambulanten Pflege, denn diese wird in der öffentlichen Diskussion oft übersehen. Der Fokus liegt zu stark auf stationären Einrichtungen, dabei findet der Großteil der Pflege doch zu Hause statt.
Wie gehen Sie und Ihr Team mit dieser Unsicherheit um?
Mit Angst, aber auch mit Mut. Wir sehen die Erfolge unserer Spezialisierung und wissen, wie wichtig unsere Arbeit ist. Doch wir brauchen Planungssicherheit. Ohne klare Vorgaben können wir nicht entscheiden, wie viele Mitarbeiterinnen wir ein- stellen oder weiterbilden. Gerade in spezialisierten Bereichen wie der Wundversorgung sparen wir den Kostenträgern erhebliche Summen, weil wir effizient und erfolgreich arbeiten. Doch diese Einsparungen kommen nicht bei uns an. Das ist frustrierend. Es wäre auch wichtig, dass wir bei neuen gesetzlichen Vorgaben mehr Vorlaufzeit bekommen. Oft müssen wir innerhalb kürzester Zeit auf Änderungen reagieren, was den Betrieb erheblich erschwert. Wir wünschen uns einen kontinuierlichen Dialog mit den politischen Entscheidungsträgern, um solche Unsicherheiten zu vermeiden.
Wie können Kund:Innen trotz wirtschaftlicher Zwänge weiterhin gut versorgt werden?
Wir optimieren unsere Tourenplanung und setzen auf Einkaufsgemeinschaften, um Kosten zu senken. Trotzdem nehmen wir jeden Kundin/ Kunden an, solange die Versorgung wirtschaftlich tragbar bleibt. Wichtig ist uns auch, die Kundin/ den Kunden aufzuklären, dass Pflegegeld zweckgebunden ist und nicht für andere Ausgaben genutzt werden sollte. Wir sehen leider immer wieder, dass Kund:innen Leistungen reduzieren, um Pflegegeld für andere Zwecke zu nutzen. Das geht oft zulasten der Pflegequalität und führt zu vermeidbaren Krankenhausaufenthalten. Zudem ist es essenziell, präventive Maßnahmen stärker in den Fokus zu rücken. Wenn wir häufiger bei den Kund:innen sind, können wir rechtzeitig eingreifen und Krankenhausaufenthalte vermeiden. Leider sparen viele Kund:innen hier am falschen Ende. Zusätzlich setzen wir auf eine enge Zusammenarbeit mit Hausärzt:innen und Therapeut:innen, um die Versorgung ganzheitlich zu verbessern.
Zum Abschluss: Wie wollen Sie öffentlich und politisch Aufmerksamkeit für die Pflege schaffen?
Wir planen mit der Ruhrgebietskonferenz den „Reformstau- Gipfel”, um vor der Bundestagswahl wichtige Themen auf den Tisch zu bringen. Dabei laden wir nicht nur Politiker:innen, sondern auch Vertreter:innen der Presse als Impulsgeber ein. Unser Ziel ist, die öffentliche Debatte anzustoßen und dringend erforderliche Reformen einzufordern. Es ist wichtig, dass wir die Stimmen aus der Praxis hörbar machen. Denn nur so können wir langfristig etwas bewegen. Wir wollen nicht nur Forderungen stellen, sondern auch Lösungsansätze präsentieren. Mit einer breiten Beteiligung von Expert:innen und Praktiker:innen hoffen wir, die Dringlichkeit unserer Anliegen deutlich zu machen. Es geht nicht nur um die Gegenwart, sondern auch um die Zukunft der Pflege in Deutschland. Wir müssen heute handeln, um morgen eine nachhaltige und qualitativ hochwertige Versorgung zu sichern.
Die Fragen stellte Asim Loncaric.