Artikel in Care Konkret 01 2025

Pressebericht Care Konkret | Ausg 5 | 01 2025

Die Pflege in den Programmen der etablierten Parteien "erschreckend abstrakt behandelt" Wie umgehen mit der Krise?

Herr Westermann, in den aktu­ellen Wahl­pro­grammen scheint die Pflege kaum Beachtung zu finden. Wie bewerten Sie das?

Tatsächlich ist die Pflege in den Programmen der etablierten Parteien erschre­ckend abstrakt behandelt. Die wirk­lichen Probleme unserer Branche werden kaum aufge­griffen. Nehmen wir das Pfle­ge­kom­pe­tenz­gesetz es mag den Beruf etwas aufwerten, aber das reicht bei Weitern nicht aus. Wir sind doch längst ein unver­zicht­barer Bestandteil unserer Gesell­schaft. Ohne uns würden viele grund­le­gende Funk­tionen in der Bundes­re­publik Deutschland einfach nicht mehr funk­tio­nieren. Und das ist etwas, was ich auch in Gesprächen mit der Politik immer wieder betone. Ich habe Herrn Merz beispiels­weise direkt gebeten, die Pflege nicht zu vergessen, da sie ein zentraler Faktor für eine stabile Wirt­schaft ist.

Sie sehen also andere Stell­schrauben?

Absolut. Es geht darum, den Pfle­ge­be­reich wirt­schaftlich zu stabi­li­sieren und gleich­zeitig die Rahmen­be­din­gungen zu verbessern. Zum Beispiel müssen pfle­gende Ange­hörige entlastet werden. Unsere Erfah­rungen mit dem Verein „wir pflegen“ zeigen, dass viele Ange­hörige schlicht über­fordert sind. Ohne profes­sio­nelle Pflege wird die Belastung der Familien immer größer. Gleich­zeitig müssen wir darüber sprechen, wie wir die Arbeits­be­din­gungen für Pfle­ge­kräfte nach­haltig verbessern können. Denn der Fach­kräf­te­mangel wird in den nächsten Jahren noch drama­ti­scher. Wir brauchen Anreize und vor allem eine bessere gesell­schaft­liche Aner­kennung. Außerdem sollte auch die Ausbildung attrak­tiver gestaltet werden, damit mehr junge Menschen in den Pfle­ge­beruf einsteigen. Dazu gehören finan­zielle Anreize, bessere Praxis­be­gleitung und lang­fristige Karrie­re­per­spek­tiven.

Wie steht es wirt­schaftlich bei den ambu­lanten Pfle­ge­diensten aus?

Leider schlecht. Ein ambu­lanter Pfle­ge­dienst, der weniger als 100.000 Euro Monats­umsatz erzielt, wird Schwie­rig­keiten haben, zu über­leben. Das Problem ist, dass die Refi­nan­zierung der Perso­nal­kosten durch die Kosten­träger oft nicht aus- reichend ist. Besonders Dienste, die auf das regionale übliche Entgelt gesetzt haben, stehen vor großen Heraus­for­de­rungen. Wir haben deshalb unseren Tarif gewechselt, um wirt­schaftlich besser dazu­stehen. Aber das ist keine Lösung für alle. Viele kleinere Dienste stehen vor dem Aus. Und wenn sie wegfallen, verlieren wir nicht nur Arbeits­plätze, sondern auch die Vielfalt und Flexi­bi­lität in der Pflege. Kleine spezia­li­sierte Anbieter, etwa für inter­kul­tu­relle Pflege, leisten einen wich­tigen Beitrag, der bei Verstaat­li­chungs­de­batten oft igno­riert wird. Diese Nischen­an­gebote sind nicht nur kulturell, sondern auch menschlich von unschätz­barem Wert. Sie zeigen, wie viel­seitig und indi­vi­duell Pflege in Deutschland sein kann.

Welche Rolle spielt die staat­liche Unter­stützung?

Eine enorm wichtige. Doch leider gibt es hier riesige Lücken. Nehmen wir Hamburg: Dort wurden für 380 Millionen Euro Pfle­ge­ein­rich­tungen zurück- gekauft, ohne dass dadurch ein einziger neuer Pfle­ge­platz geschaffen wurde. Wenn private Dienste verdrängt werden, verlieren wir Inno­vation, Flexi­bi­lität und Nischen­an­gebote wie inter­kul­tu­relle Pflege. Es ist einfach nicht nach­voll­ziehbar, warum man bestehende Struk­turen nicht besser fördert, statt sie zu ersetzen. Auch die Digi­ta­li­sierung bleibt ein großes Thema. Viele Dienste inves­tieren bereits aus eigener Tasche in digitale Systeme, doch die Refi­nan­zierung dieser Inves­ti­tionen ist meist unzu­rei­chend. Dabei wäre eine digitale Infra­struktur eine große Chance für effi­zi­entere Prozesse und eine bessere Vernetzung. Wir könnten nicht nur Kosten senken, sondern auch die Qualität der Versorgung deutlich verbessern. Es ist an der Zeit, dass der Staat hier lang­fristig denkt und gezielt in diese Bereiche inves­tiert.

Was fordern Sie konkret?

Wir brauchen eine Grund­reform der Pfle­ge­ver­si­cherung und eine 100-prozentige Refi­nan­zierung unserer Kosten. Die Verhand­lungen mit den Kosten­trägern müssen endlich auf Augenhöhe statt­finden. Es darf nicht sein, dass Verhand­lungen über Jahre hinaus­ge­zögert werden, wie wir es aktuell in NRW erleben. Dort verhandeln wir seit über einem Jahr über die Vergütung von Leis­tungen für chro­nische Wunden. Solche Verzö­ge­rungen sind nicht nur frus­trierend, sie erschweren auch die Planung und den Betrieb eines Pfle­ge­dienstes. Gleich­zeitig sollte die Finan­zierung unab­hän­giger von Eigen­mitteln der Pfle­ge­be­dürf­tigen gestaltet werden. Pflege darf kein Luxus sein. Wir brauchen zudem eine stärkere Lobby­arbeit für die Belange der ambu­lanten Pflege, denn diese wird in der öffent­lichen Diskussion oft über­sehen. Der Fokus liegt zu stark auf statio­nären Einrich­tungen, dabei findet der Großteil der Pflege doch zu Hause statt.

Wie gehen Sie und Ihr Team mit dieser Unsi­cherheit um?

Mit Angst, aber auch mit Mut. Wir sehen die Erfolge unserer Spezia­li­sierung und wissen, wie wichtig unsere Arbeit ist. Doch wir brauchen Planungs­si­cherheit. Ohne klare Vorgaben können wir nicht entscheiden, wie viele Mitar­bei­te­rinnen wir ein- stellen oder weiter­bilden. Gerade in spezia­li­sierten Bereichen wie der Wund­ver­sorgung sparen wir den Kosten­trägern erheb­liche Summen, weil wir effi­zient und erfolg­reich arbeiten. Doch diese Einspa­rungen kommen nicht bei uns an. Das ist frus­trierend. Es wäre auch wichtig, dass wir bei neuen gesetz­lichen Vorgaben mehr Vorlaufzeit bekommen. Oft müssen wir innerhalb kürzester Zeit auf Ände­rungen reagieren, was den Betrieb erheblich erschwert. Wir wünschen uns einen konti­nu­ier­lichen Dialog mit den poli­ti­schen Entschei­dungs­trägern, um solche Unsi­cher­heiten zu vermeiden.

Wie können Kund:Innen trotz wirt­schaft­licher Zwänge weiterhin gut versorgt werden?

Wir opti­mieren unsere Touren­planung und setzen auf Einkaufs­ge­mein­schaften, um Kosten zu senken. Trotzdem nehmen wir jeden Kundin/​​ Kunden an, solange die Versorgung wirt­schaftlich tragbar bleibt. Wichtig ist uns auch, die Kundin/​​ den Kunden aufzu­klären, dass Pfle­gegeld zweck­ge­bunden ist und nicht für andere Ausgaben genutzt werden sollte. Wir sehen leider immer wieder, dass Kund:innen Leis­tungen redu­zieren, um Pfle­gegeld für andere Zwecke zu nutzen. Das geht oft zulasten der Pfle­ge­qua­lität und führt zu vermeid­baren Kran­ken­haus­auf­ent­halten. Zudem ist es essen­ziell, präventive Maßnahmen stärker in den Fokus zu rücken. Wenn wir häufiger bei den Kund:innen sind, können wir recht­zeitig eingreifen und Kran­ken­haus­auf­ent­halte vermeiden. Leider sparen viele Kund:innen hier am falschen Ende. Zusätzlich setzen wir auf eine enge Zusam­men­arbeit mit Hausärzt:innen und Therapeut:innen, um die Versorgung ganz­heitlich zu verbessern.

Zum Abschluss: Wie wollen Sie öffentlich und poli­tisch Aufmerk­samkeit für die Pflege schaffen?

Wir planen mit der Ruhr­ge­biets­kon­ferenz den „Reformstau- Gipfel”, um vor der Bundes­tagswahl wichtige Themen auf den Tisch zu bringen. Dabei laden wir nicht nur Politiker:innen, sondern auch Vertreter:innen der Presse als Impuls­geber ein. Unser Ziel ist, die öffent­liche Debatte anzu­stoßen und dringend erfor­der­liche Reformen einzu­fordern. Es ist wichtig, dass wir die Stimmen aus der Praxis hörbar machen. Denn nur so können wir lang­fristig etwas bewegen. Wir wollen nicht nur Forde­rungen stellen, sondern auch Lösungs­an­sätze präsen­tieren. Mit einer breiten Betei­ligung von Expert:innen und Praktiker:innen hoffen wir, die Dring­lichkeit unserer Anliegen deutlich zu machen. Es geht nicht nur um die Gegenwart, sondern auch um die Zukunft der Pflege in Deutschland. Wir müssen heute handeln, um morgen eine nach­haltige und quali­tativ hoch­wertige Versorgung zu sichern.

Die Fragen stellte Asim Loncaric.